Kiel/München, 12. Februar 2021. Leukämie ist die häufigste Krebserkrankung bei Kindern und Jugendlichen. Während die Diagnose Leukämie früher einem Todesurteil gleichkam, sind die Überlebenschancen dank der Fortschritte der Medizin bis heute deutlich gestiegen. Zum Internationalen Kinderkrebstag am 15. Februar zieht Prof. Dr. Gunnar Cario eine Zwischenbilanz im Kampf gegen Leukämie und erklärt, an welchen vielversprechenden Therapieansätzen – auch mit Unterstützung der José Carreras Leukämie-Stiftung – mittlerweile geforscht wird. Prof. Cario ist ein anerkannter Experte im Bereich der Kinderonkologie. Der Mediziner ist stellvertretender Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin I am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Kiel und leitet dort den Bereich Kinderonkologie.
Herr Prof. Cario, noch vor einem halben Jahrhundert kam die Diagnose Leukämie bei Kindern einem Todesurteil nach. Wie ist die Situation heute?
Prof. Dr. Gunnar Cario: „Leukämien stellen mit circa einem Drittel aller Krebserkrankungen die mit Abstand häufigste bösartige Erkrankung im Kindes- und Jugendalter dar. Circa drei Viertel der betroffenen Kinder erkranken an einer Akuten Lymphatischen Leukämie (ALL), circa ein Viertel an einer – zumeist Akuten – Myeloischen Leukämie (AML). Mittlerweile können die meisten Kinder und Jugendlichen von Leukämie langfristig geheilt werden. So liegt das Langzeitüberleben bei der ALL bei circa 90 Prozent, bei der AML bei circa 75 Prozent. Die Unterstützung der José Carreras Leukämie-Stiftung in den letzten 25 Jahren hat hierzu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Dennoch erleiden noch immer viele Patienten trotz kräftezehrender Therapie einen Rückfall der Erkrankung. Auch viele geheilte Patienten haben im Therapieverlauf schwere, zum Teil lebensbedrohliche Nebenwirkungen und/oder leiden unter erheblichen Langzeitfolgen, so dass eine weitere Optimierung der Therapie notwendig ist.“
Welche Symptome können auf eine Leukämie hindeuten?
Prof. Dr. Gunnar Cario: „Es sind zum einen Symptome der unkontrollierten Vermehrung der Leukämiezellen im Knochenmark mit Verdrängung der normalen Blutbildung. Dazu gehören länger anhaltende Knochenschmerzen, die sich häufig als Beinschmerzen äußern, Blutungszeichen wie punktförmige Hauteinblutungen, blaue Flecken, Nasen- und Zahnfleischbluten wegen des Mangels an Blutplättchen (Thrombozyten), Blässe, Abgeschlagenheit, Müdigkeit, schnelle Erschöpfung als Ausdruck des Mangels an roten Blutkörperchen sowie anhaltendes Fieber und Infekte als Ausdruck des Fehlens an weißen Blutkörperchen, die für die Infektabwehr notwendig sind.
Zum anderen sind es Zeichen des Ausschwemmens von Leukämiezellen in das Blut und die Organe des Körpers, wie Kopfschmerzen und Sehstörungen bei Befall des Zentralen Nervensystems, Lymphknotenschwellungen, die wenn sie den Brustkorb betreffen, mit Husten und Atemnot einhergehen können und Bauchschmerzen, weil Leber und Milz anschwellen. Bei fast allen Symptomen sind andere Ursachen als eine Leukämie zumeist wahrscheinlicher, aber es ist wichtig, eine Leukämie in die Abklärung mit einzubeziehen – die Eltern sollten deshalb nicht zögern, den Kinderarzt bei entsprechenden Symptomen aufzusuchen und auf ihre Sorge hin anzusprechen.“
Welche Umstände können für eine Leukämie verantwortlich sein?
Prof. Dr. Gunnar Cario: „Wir wissen mittlerweile, dass bei einem kleinen Anteil der Erkrankten eine genetisch-bedingte Neigung zur Entstehung von Leukämien vorliegt, also eine genetische Prädisposition, weshalb wir auch gezielt danach fragen, ob beispielsweise in der Familie bereits im jüngeren Lebensalter Krebserkrankungen aufgetreten sind. Wir wissen zwar, dass beispielsweise ionisierende Strahlen oder bestimmte Giftstoffe Krebserkrankungen auslösen können, bei unseren Patienten stellen wir aber praktisch nie einen unmittelbaren Zusammenhang fest und können deshalb in den allermeisten Fällen keine Ursache finden.“
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie die José Carreras Leukämie-Stiftung den Kampf gegen Leukämie am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein unterstützt?
Prof. Dr. Gunnar Cario: „Die José Carreras Leukämie-Stiftung hat uns beispielsweise bei einem Forschungsprojekt unterstützt, bei dem wir untersucht haben, wie wichtig das Ansprechen der Leukämie auf die Therapie über die Messung noch verbliebener Leukämiezellen für die langfristigen Heilungschancen der ALL ist. Wir haben dabei das Vorhandensein von einer Leukämiezelle unter über zehntausend gesunden Zellen über die gesamte Therapiedauer beobachtet. Aus diesem Projekt sind konkrete Schlussfolgerungen für die Therapie gezogen worden.“
Sie verfolgen am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein den Ansatz, über eine zunehmend molekular begründete Medizin neue Behandlungschancen zu generieren. Was bedeutet dies konkret für die kleinen Patienten? Welche Perspektiven eröffnen sich damit?
Prof. Dr. Gunnar Cario: „Das wachsende Verständnis der molekularen Vorgänge in den Leukämiezellen eröffnet uns die Möglichkeit, in bestimmten Untergruppen gezielt beispielsweise aktivierte Signalwege mit neuartigen Medikamenten zu hemmen. Zugleich haben wir mittlerweile auch immuntherapeutische Ansätze, die es erlauben, die Leukämiezellen durch die zielgerichtete Aktivierung des eigenen Immunsystems zu vernichten. Beide Ansätze haben das große Potential dazu beizutragen, zum einen noch mehr Rückfälle der Erkrankung zu verhindern, aber auch – und das ist uns genauso wichtig – für die Patienten, die bereits jetzt exzellente Heilungschancen haben, die Intensität der Chemotherapie und damit das Risiko für schwere Nebenwirkungen und Langzeitfolgen zu verringern. Bei den bereits sehr guten Heilungschancen ist es dabei ganz wichtig, innovative Therapiekonzepte auf ihren Mehrwert hin weiterhin in prospektiven Therapie-optimierungsstudien systematisch zu prüfen.“